Montag, 22.10.2018

Pädophilie – eine sexuelle Orientierung?

 

Die Pädophilie zählt in der Sexualwissenschaft zu den umstrittensten Themen überhaupt. Es gibt die unterschiedlichsten Ansichten darüber, wie die Pädophilie zu bewerten ist, wo die Ursachen liegen und wie sie zu behandeln ist. In der klassischen Psychoanalyse zählt sie zu den Perversionen (vergl. Die Frage nach den Ursachen). Heute spricht man in der Sexualwissenschaft nicht mehr von Perversionen, sondern von Paraphilien oder (gleichbedeutend) von sexuellen Präferenzstörungen. Unter diesen Begriffen werden heute alle abweichenden, als krankhaft geltenden sexuellen Vorlieben zusammengefasst. Beide Begriffe sind nicht wertend gemeint, wogegen die frühere Bezeichnung Perversion heute einen sehr abwertenden Beigeschmack hat. Unter einer sexuellen Präferenz versteht man die sexuellen Sehnsüchte und Vorlieben eines Menschen, also das, worauf jemand „steht“. Da diese Vorlieben sehr unterschiedlich sein können, ist auch die sexuelle Präferenz eines jeden Menschen etwas ganz Individuelles und einmaliges.


Paraphilie und Dissexualität

Für den Begriff der „Paraphilie“ bzw. der „sexuellen Präferenzstörung“ gibt es in der internationalen Fachwelt zwei Definitionen, die sich sehr ähnlich sind und weitgehend gleichberechtigt nebeneinander verwendet werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht offiziell von „sexuellen Präferenzstörungen” und beschreibt sie als „wiederholt auftretende, intensive sexuelle Impulse und Phantasien, die sich auf ungewöhnliche Gegenstände oder Aktivitäten beziehen.“ 1) Der Betroffene handelt entweder nach diesen Impulsen oder fühlt sich davon „deutlich beeinträchtigt.“ Drittes Merkmal: Die fragliche Präferenz muss über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten bestehen.

Eine zweite Definition stammt von der APA (American Psychiatric Association) und ist etwas differenzierter als die sehr allgemein gehaltene Beschreibung der WHO. Die APA spricht nicht von sexuellen Präferenzstörungen, sondern von „Paraphilien“, die sie als „wiederkehrende, intensiv sexuelle erregende Phantasien, sexuelle dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen“ beschreibt.1) Eine Paraphilie bezieht sich entweder auf:

1.) nicht menschliche Objekte

2.) das Leiden oder die Demütigung von sich selbst oder eines Partners

3.) Kinder oder andere nicht einwilligende oder nicht einwilligungsfähige Personen

Auch nach den Kriterien der APA erstreckt sich eine Paraphilie über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten, wobei sie entweder obligat oder episodisch auftritt. Für die Diagnosestellung muss außerdem ein Leidensdruck im sozialen, beruflichen oder einem anderen Lebensbereich vorliegen. Zu den am häufigsten vorkommenden Paraphilien bzw. Präferenzstörungen zählen Fetischismus, Exhibtionismus, Sadismus, Masochismus, Voyeurismus und auch die Pädophilie.1) All diese klinischen Bilder werden sowohl von der APA als auch von der WHO zu den krankhaften sexuellen Störungen gerechnet. Nach den Diagnose-Kriterien der APA gehört die Pädophilie nach Punkt 3 schon per Definition zu den Paraphilien, ohne dies einer gesonderten Erwähnung bedarf (vergl. Ist Pädophilie eine Krankheit?). Darüber hinaus gibt es bei der WHO noch den Sammelbegriff „Sonstige Störungen der Sexualpräferenz“, mit dem alle anderen sexuellen Vorlieben zusammengefasst werden, die sich sonst in kein Schema einordnen lassen.

Außerdem unterscheidet man heute zwischen Störungen der sexuellen Präferenz und Störungen des sexuellen Verhaltens.2). Während es für sexuelle Präferenzstörungen das Synonym der Paraphilie gibt, werden sexuelle Verhaltensstörungen auch unter dem Begriff Dissexualität zusammengefasst, der in der Fachwelt wie folgt definiert wird:

Unter dieser Bezeichnung werden sämtliche sexuellen Verhaltensweisen zusammengefasst, bei denen das Wohl und die sexuelle Selbstbestimmung anderer Menschen beeinträchtigt oder geschädigt wird und die aus diesem Grunde strafrechtlich verfolgt werden können.“

(Ahlers Ch. J., Schaefer G. A., Beier K. M. (2005): „Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit in DSM-IV und ICD-10.“, Sexuologie 12 (3/4), S. 148)

Die Pädophilie als bloße Neigung zählt ‒ solange sie nicht ausgelebt wird ‒ zu den sexuellen Präferenzstörungen. Kommt es zu sexuellen Übergriffen auf Kinder, dann liegt keine reine Präferenzstörung mehr vor, sondern der Betroffene fällt in die Kategorie der sexuellen Verhaltensstörungen. Was den Umgang mit sexuellen Präferenzstörungen angeht, so setzt sich heute immer mehr eine pragmatische Sichtweise durch. Abweichende Sexualpräferenzen bzw. Paraphilien nur noch dann als behandlungsbedürftig, wenn der Betroffene andere durch sein Verhalten gefährdet oder selbst unter seinen Gefühlen leidet.2)

Der Begriff der Dissexualität bezieht sich dagegen immer auf ein problematisches sexuelles Verhalten, nicht auf Gefühle oder Fantasien. In diesem Sinne verstehen viele Wissenschaftler auch die Pädophilie als eine sexuelle Präferenz, die es zu respektieren gilt, solange der Betroffene sie nicht auslebt und kein Kind damit gefährdet. Was die Pädophilie dennoch von vielen anderen Paraphilien unterscheidet, ist der Umstand, dass sie grundsätzlich nicht ausgelebt werden kann. Andere abweichende Vorlieben (z. B. Sadismus, Masochismus) können auf spielerische Art unter Gleichgesinnten ausgelebt werden, bei der pädophilen Sexualität ist das nicht möglich. Die einzige Möglichkeit für den Pädophilen ist allenfalls die Erfüllung auf einer platonischen Ebene.

 

Sexuelle Orientierung als Partnerwahlverhalten

Viele Pädophile kämpfen dafür, die Pädophilie als eigenständige sexuelle Orientierung neben Hetero- und Homosexualität anzuerkennen. Damit will man sich einerseits der Diskriminierung pädophil empfindender Menschen vorbeugen, gleichzeitig aber auch dem immer noch weit verbreiteten Mythos von der „Heilbarkeit“ entgegentreten. Es soll deutlich gemacht werden, das die pädophile Präferenz eine lebenslange Persönlichkeitseigenschaft ist, die man niemandem zum Vorwurf machen kann. Die Mehrheit der Sexualforscher sieht in der Pädophile keine eigenständige sexuelle Orientierung, da sie per Definition bereits den Paraphilien zugeordnet ist. Als einer der wenigen Fachleute spricht Prof. Schmidt in seinem berühmten Aufsatz „Über die Tragik pädophiler Männer“ von einer „sexueller Orientierung“ der Pädophilen, die „tief und strukturell bis in ihre Identität hinein verwurzelt„ ist.3) Als Vertreter der Gegenseite weisen die Sexualforscher Berner und Hill darauf hin, dass Pädophile „in der Art ihres Begehrens“ um ein vielfaches uneinheitlicher seien als etwa Homo- und Heterosexuelle.4) So gäbe es homo- hetero- und bisexuelle Pädophile, die zudem noch auf unterschiedliche Altersgruppen fixiert seien. Von einer einheitlichen „pädophilen Orientierung“ könne daher keine Rede sein.

Berner und Hill weisen aber auch darauf hin, dass der Begriff der sexuellen Orientierung nicht einheitlich definiert ist. So gäbe es eine weit gefasste Definition, die sich auf „alle sexuellen Interessen“ beziehe ‒ und somit auch auf ungewöhnliche Präferenzen wie Pädophilie, Fetischismus oder Sadomasochismus. Im engeren Sinne sei eine sexuelle Orientierung als eine Form von „Partnerwahlverhalten“ zu verstehen, das sich entweder auf gegengeschlechtliche oder auf gleichgeschlechtliche Partner ‒ oder auf beide ‒ bezieht.4) Bei Hetero- Homo- und Bisexualität könne man zu Recht von „sexuellen Orientierungen“ sprechen, da hier eine auf gegenseitigem Austausch beruhende Partnerschaft möglich ist. Zwischen einem Erwachsenen und einem Kind gäbe es eine solche Gegenseitigkeit nicht, so dass auch keine gleichberechtigte Partnerschaft zustande kommen könnte.4) Auch das spräche gegen die Einordnung der Pädophilie als sexueller Orientierung im engeren Sinn.

Wenn man sich also fragt, ob eine pädophile Präferenz als eigenständige sexuelle Orientierung anzusehen ist, dann muss man vorher immer fragen, was mit „sexueller Orientierung“ überhaupt gemeint ist. In dieser uneinheitlichen Begriffsverwendung sehe ich derzeit das größte Problem. Selbst Berner und Hill bezeichnen den Terminus der sexuellen Orientierung als einen „wissenschaftlichen Verlegenheitsbegriff“, der „verdeckt, wie wenig wir über die Bedingungen einer teilweisen oder ausschließlichen Partnerwahl im Sinne von Homo-oder Heterosexualität wissen“.4)

 

Das Präferenzmodell der Charité

Einen möglichen Ausweg aus der unklaren Begriffswelt könnte das so genannte „Dreiachsenmodell“ darstellen, das von Sexualmedizinern der Berliner Charité entwickelt wurde. Nach diesem Modell setzt sich die sexuelle Präferenz eines Menschen aus drei unterschiedlichen Achsen zusammen: der Orientierung, der Ausrichtung und der Neigung.2) Diese Begriffe werden von der Charité folgendermaßen definiert:

a) Die sexuelle Orientierung

Die Orientierung bezieht sich auf das Geschlecht, also auf Männer oder auf Frauen. Als Orientierungen gibt es Heterosexualität, Homosexualität und Bisexualität.

b) Die sexuelle Ausrichtung

Die Ausrichtung bezieht sich auf das Alter der bevorzugten Sexualpartner. Hier unterscheidet man das Interesse am kindlichen, jugendlichen und erwachsenen Körper.

c) Die sexuelle Neigung

Der Begriff der Neigung bezieht sich auf die Sexualpraktiken, also die Art und Weise, in der jemand seine Sexualität auslebt bzw. ausleben möchte. Die Bandbreite der in Frage kommenden sexuellen Neigungen ist groß. Ein Mensch kann z. B. sadistisch geneigt sein, masochistisch, voyeuristisch, exhibitionistisch oder fetischistsich.

Diese Dreiteilung ist in der Sexualwissenschaft noch relativ neu und wurde eingeführt, um Begriffe wie Neigung und Orientierung – die bis heute oftmals rein beliebig verwendet werden – zu präzisieren und zu vereinheitlichen. Daraus ergibt sich eine klare Einteilung der unterschiedlichsten sexuellen Vorlieben, ohne dass es zu begrifflichen Überschneidungen kommt.2) Allgemein durchgesetzt hat sich das Dreiachsenmodell noch nicht; bislang wird es ausschließlich in Fachkreisen erörtert. Darüber hinaus gibt es noch den Begriff der sexuellen Identität.2) Sie bezieht sich auf das Selbstbild eines Menschen, also auf das subjektive Erleben der eigenen Sexualität. Die sexuelle Identität setzt sich zusammen aus der Geschlechtsidentität (Selbsterleben als Mann oder Frau) und der sexuellen Präferenz (wie oben beschrieben). Die sexuelle Identität ist nicht nur wichtig für das sexuelle Selbstbild eines Menschen, sondern hat auch entscheidende Auswirkungen auf seine Lebensführung, sein Selbstbewusstsein und insbesondere auf seine Beziehungsfähigkeit.

In der sexuellen Identität eines Menschen kommt häufig ein bestimmtes Lebensgefühl gegenüber der eigenen Sexualität zum Ausdruck. Die Selbstbezeichnung als „schwul“ oder „lesbisch“ sind zwei typische Beispiele für ein positiv besetztes Lebensgefühl, das in einer selbstbewussten sexuellen Identität gründet. Es gibt auch eine ideologisch verbrämte sexuelle Identität, wie sie vor allem in Pädophilen-Kreisen weit verbreitet ist. In radikalen Pädophilen-Kreisen ist die Selbstbezeichnung als „Boylover“ bzw. „Girllover“ üblich, mit denen der problematische Charakter der Pädophilie verschleiert werden soll. Die sexuelle Identität erfüllt somit zwei Funktionen: Zum einen ist sie wichtig für die persönliche Einstellung zur eigenen Sexualität, zum anderen erfüllt sie ein soziale Funktion, wenn es darum geht, wie sich ein Einzelner (oder auch ein Gruppe) mit seiner Sexualität nach außen präsentiert.

Abschießend wird deutlich, dass man eine pädophile Präferenz sicher nicht als sexuelle Orientierung im engeren Sinn bezeichnen kann, sofern man darunter ein Partnerwahlverhalten nach Berner und Hill versteht. Solange sich aber selbst die Fachwelt nicht darüber einig ist, was nun genau unter einer sexuellen Orientierung zu verstehen ist, wird man es den Pädophilen aber nicht übel nehmen können, wenn sie ihre Präferenz für sich als „sexuelle Orientierung“ deklarieren. Den derzeit überzeugendsten Ansatz bietet aus meiner Sicht immer noch das Präferenzmodell der Charité, nach dem es sich bei der Pädophilie nicht um eine sexuelle Orientierung handelt, sondern um eine sexuelle Ausrichtung.

Natürlich kann man sich fragen, ob die beiden Begriffe „Orientierung“ und „Ausrichtung“ von der Wortbedeutung her nicht ohnehin gleich sind. Dieser Einwand ist nicht unberechtigt, denn mit dem bloßen Austausch von Begrifflichkeiten ist es nicht getan. Auf der anderen Seite ist es schon sinnvoll, wenn man deutlich macht, dass die Bevorzugung eines bestimmten Geschlechts anders bewerten ist als die Bevorzugung eines bestimmten Alters, weshalb unterschiedliche Begriffe in diesem Fall durchaus Sinn machen. Der Anspruch, die Pädophilie als eigenständige sexuelle Orientierung zu etablieren, wäre nach dem Dreiachsenmodell nicht mehr haltbar. Dagegen ist es sehr wohl legitim, von einer pädophilen Identität zu sprechen, da sich die sexuelle Identität auf das Selbsterleben bezieht und somit das Ergebnis eines ganz individuellen Selbstfindungsprozesses darstellt. Ob sich insbesondere die Pädophilen selbst mit dieser Kategorisierung zufrieden geben werden, bleibt abzuwarten.

 

Literatur:

1) Berner W., Hill A, Briken P, Kraus Ch., Lietz K. (2007): „Störungen der sexuellen Präferenz“, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, Darmstadt 2007

2) Ahlers Ch. J., Schaefer G. A., Beier K. M. (2005): „Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit in DSM-IV und ICD-10.“, Sexuologie 12 (3/4), S. 145)

3) Schmidt G. (1999): „Über die Tragik pädophiler Männer“, Zeitschrift für Sexualforschung Nr.2 /99

4) Berner W., Hill A. (2004): „Pädophilie - eine sexuelle Orientierung?“, in: Richter-Appelt H., Hill, A. „Geschlecht zwischen Spiel und Zwang“, Gießen 2004

aktualisiert: 16.09.2011